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Die Zeit beschert uns viele Genies.
Hoffen wir, es sind ein paar Begabte darunter.
Stanislav Jerzy Lec, (1909–1966), »Unfrisierte Gedanken«
Hector Berlioz (1803 – 1869) Der verrückt gewordene Flügel

Die Prüfungen am Konservatorium haben begonnen. Am ersten Tag nahm Herr Auber, um gleichsam den Stier bei den Hörnern zu fassen, die Klavierklassen vor. Die unerschrockene Jury, die beauftragt war, die Preisbewerber zu hören, vernimmt ohne merkliche Erregung, daß es einunddreißig an der Zahl sind, achtzehn Damen und dreizehn Herren. Für den Wettstreit ist das g-moll-Konzert von Mendelssohn gewählt. Wenn also nicht etwa einen der Kandidaten während der Sitzung der Schlag rührt, so wird das Konzert einunddreißigmal hintereinander gespielt; das weiß man. Was man aber noch nicht weiß und was ich selbst vor wenigen Stunden noch nicht wusste..., das hat mir heute morgen ein Pedell des Konservatoriums erzählt:

Karikatur Felix Mendelssohn-Bartholdy
Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809 – 1847)
Karikatur: © BUBEC (*1938)

„Ach! der arme Erard!“ sagte er, „so ein Unglück.“

„Erard, was ist ihm passiert?“

„Wie, waren sie denn nicht in der Klavierprüfung?“

„Nein, was ist denn geschehen?“

„Denken Sie sich nur, Herr Erard war so liebenswürdig, uns für den Tag einen prachtvollen Flügel zu leihen, den er eben fertiggestellt hatte und den er zur Weltausstellung nach London schicken wollte... Eine herrliche Tonfülle, noch nie gehörte Gewalt der Bässe, kurz ein ganz außergewöhnliches Instrument. Nur die Tasten gingen ein bißchen schwer, aber gerade deswegen hat er ihn uns geschickt. Erard hatte sich gesagt: Wenn die einunddreißig Schüler ihr Konzert heruntertrommeln werden sie die Tasten meines Flügels schon aufmuntern, und das  kann ihm nur gut tun...

Der erste Schüler erscheint also, und da er findet, daß der Flügel ziemlich schwer geht, greift er ihn kräftig an, um Ton herauszuholen. Der zweite ebenso. Beim dritten sträubt sich das Instrument nicht mehr so sehr; beim fünften noch weniger. Wie es der sechste gefunden hat, weiß ich nicht; in dem Augenblick, da er auftrat, mußte ich für einen unserer Herren Preisrichter, dem schlecht geworden war, ein Fläschchen Äther holen. Als ich zurückkehrte, war der siebente gerade fertig, und wie er vom Podium kam, hörte ich ihn sagen: „Der Flügel geht ja gar nicht so schwer; im Gegenteil, ich finde ihn ausgezeichnet, in jeder Hinsicht vollkommen.“ Die zehn bis zwölf folgenden Bewerber waren derselben Ansicht; die letzten behaupteten sogar, daß der Anschlag nicht nur nicht zu schwer, sondern vielmehr zu leicht sei.

Gegen dreiviertel auf drei waren wir bei Nr. 26 angelangt, um zehn Uhr hatte man angefangen; an der Reihe war Fräulein Hermence Lévy, der schwergehende Klaviere ein Greuel sind. Sie konnte sich's also gar nicht besser wünschen; sie hat uns denn auch das Konzert so leichtfingerig heruntergespielt, daß sie glatt den ersten Preis bekam. Wenn ich sage glatt, so ist das nicht ganz richtig: Sie hat ihn mit Fräulein Vidal und Fräulein Roux geteilt. Auch diesen beiden Damen kam die Leichtigkeit der Klaviatur zustatten; sie fing sich schon zu bewegen an, wenn man sie bloß anhauchte. Ist jemals so ein Flügel gewesen? Als Nr. 29 vorspielte, mußte ich wieder fort, um einen Arzt zu holen; ein anderer Preisrichter hatte einen bedenklich roten Kopf bekommen und mußte notwendig zur Ader gelassen werden. Ja, die Klavierprüfung ist kein Spaß, und als der Arzt kam, war es höchste Zeit. Wie ich in den Saal zurückkehre, sehe ich Nr. 29, den kleinen Planté, ganz bleich von der Bühne kommen; er zitterte am ganzen Leibe und sagte: „Ich weiß nicht, was mit dem Flügel ist, aber die Tasten bewegen sich ganz von selbst, wie wenn drinnen jemand säße, der die Hämmer anstößt. Ich fürchte mich.“

Foto Érard Flügel
Érard Flügel

„Ach Unsinn, mein Junge, du redest dir etwas ein“, antwortete der kleine Cohen, der drei Jahre älter ist. „Laßt mich durch, ich fürchte mich nicht.“

Cohen (Nr. 30) geht hinein; er setzt sich an den Flügel, ohne die Klaviatur anzusehen, spielt sein Konzert sehr gut, und nach dem letzten Akkord, wie er eben aufsteht – fängt da nicht der Flügel das Konzert ganz allein wieder von vorne an?! Der arme junge Mensch hatte vorher den Helden gespielt; aber jetzt, nachdem er einen Augenblick versteinert gestanden hatte, lief er davon, so schnell er nur konnte. Der Flügel, dessen Ton von Minute zu Minute stärker anschwillt, läßt sich nicht stören und spielt seine Tonleitern, Triller und Arpeggien herunter. Das Publikum, das niemand am Instrument sieht, gerät überall im Saal in Bewegung. Nur ein Preisrichter, der hinten aus seiner Loge die Bühne nicht sehen konnte, ... schrie sich die Lungen aus: „Genug, genug, lassen Sie Nr. 31, den Letzten, kommen.“ Wir mußten es ihm erst zurufen: Es spiele niemand, der Flügel hat sich an das Mendelssohnsche Konzert gewöhnt und trägt es ganz allein ... vor. Sehen Sie doch nur! ...

Wir suchten nach Herrn Erard. Während dessen wurde dieser niederträchtige Flügel mit seinem Konzert fertig und fing es wieder von vorn an, attacca, ohne eine Minute zu verlieren, und so immerfort, immerfort mit größerem Lärm, als wären es vier Dutzend Klaviere im Unisono; Läufe, Tremolos, Passagen in Sexten und Terzen mit verdoppelter Oktave, zehnstimmige Akkorde, dreifache Triller, ein Platzregen von Tönen, das Pedal, der Teufel und seine Großmutter.

Herr Erard erscheint; umsonst, der Flügel, der ganz von Sinnen ist, will sich auch seiner nicht entsinnen. Er läßt Weihwasser bringen und besprengt die Tasten damit, keine Wirkung; ein Beweis, daß keine Zauberei im Spiele, sondern daß es eine natürliche Folge der dreißig Wiederholungen eines und desselben Konzertes war. Das Instrument wird auseinandergenommen, die Klaviatur, die noch immer auf- und niedergeht, herausgehoben und mitten auf den Hof der Gerätekammer geworfen, wo der wütende Erard sie mit Beilhieben zerschlagen läßt. Leicht gesagt!

Nun war's noch schlimmer, jedes Stück tanzte, hüpfte, zappelte für sich, auf den Pflastersteinen, zwischen unsern Beinen hindurch, an der Mauer empor, überall und so toll, daß endlich der Schlosser der Gerätekammer die ganz verrückt gewordene Mechanik zusammenraffte und sie in sein Schmiedefeuer warf, um der Sache ein Ende zu machen. Armer Erard! Ein so schönes Instrument! Es schnitt uns allen ins Herz!“

(zitiert nach Karl Storck, Musik und Musiker in der Karikatur und Satire. Eine Kulturgeschichte der Musik aus dem Zerrspiegel, 1998, Nachdruck der Ausgabe Oldenburg 1910)